Das Ende des Nagelhauses

http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,475403,00.html

Das Ende des Nagelhauses

Von Andreas Lorenz, Peking

Einsam stand das Haus in einer riesigen Baugrube, auf einem Erdhaufen, der wie ein Stummelzahn empor ragte. Drei Jahre hatten Wu Ping und ihr Mann Yang Wu hier ausgeharrt - den chinesischen Behörden und ihrer Bauwut zum Trotz. Heute Morgen kam nun das Ende: Bulldozer rissen das Haus ein.

Peking - Ganz China hat über Tage gespannt auf die Yangtse-Metropole Chongqing geschaut. Dort, im Zentrum der Stadt, fand ein Schauspiel statt, das ein für das Land einzigartiges Medieninteresse weckte. Im Mittelpunkt stand das sogenannte "Nagelhaus". So nennt der Volksmund Gebäude, die einem Bauprojekt im Wege stehen, weil die Anwohner nicht weichen wollen. In solchen Fällen sorgen in der Regel nächtliche Rollkommandos der Unternehmer oder der Polizei dafür, dass die Widerspenstigen das Feld räumen - vielfach mit blutigen Köpfen.

Video abspielen...Video abspielen...Großen Videoplayer öffnen...(Flash Player 8 erforderlich)

Foto: SPIEGEL TV
Video: SPIEGEL TV
Doch nicht so in Chongqing: Dort schafften es Wu Ping, eine energische Kauffrau mit aufgestecktem Haar und ihr Mann Yang Wu, ein früherer Boxer, ihren Besitz lange Zeit vor dem Abriss zu schützen. Das nicht gerade ansehnliche zweistöckige ehemalige Restaurant stand zuletzt einsam in einer riesigen Baugrube auf einem Erdhaufen, der wie ein Stummelzahn empor ragte.

Heute im frühen Morgengrauen war es vorbei: Bulldozer rückten an und machten das Gebäude dem Erdboden gleich.

Nach drei Jahren Widerstand: Der Abriss des Nagelhauses

    *
    *
    *

Fotostrecke starten: Klicken Sie auf ein Bild (7 Bilder)

Das schillernde Ehepaar hatte mit seiner Hartnäckigkeit die Sympathien von Millionen Landsleuten gewonnen. Beide weigerten sich seit drei Jahren, ihr Haus aufzugeben, weil sie nach ihrer Ansicht für den Verlust nicht hinreichend entschädigt werden sollten.

Mögliche Entschädigung

Yang, der alte Kämpfer, hielt im Nagelhaus aus und schwenkte auf dem Dach unter dem Applaus der Schaulustigen ab und an die chinesische Flagge, Frau Wu unterrichtete eloquent in- und ausländische Journalisten. Die Baufirma, an der ein staatlicher Verlag beteiligt ist, fuhr, wie sie glaubhaft versicherte, mit jedem Tag Verzögerung Riesenverluste ein.

Das Gericht hatte dem Paar schließlich eine Räumungsfrist bis zum 10. April gesetzt. Gleichwohl einigten sich die Streithähne gestern abend offenbar. Die Immobilienfirma stellt ein gleichwertiges Haus zur Verfügung, wie es heißt. Einzelheiten wurden bislang nicht bekannt, denn die redselige Frau Wu schweigt plötzlich wie ein Grab.

Der Konflikt war aus vielerlei Gründen spannend: Er zeigte unter anderem, dass im autoritären China mancherorts Widerstand möglich ist, wenn man es nur geschickt anstellt.

Die Einigung in Chongqing dürfte für viele Opfer des chinesischen Bau-Booms ein Signal sein, sich ebenfalls zu wehren. Denn viele Bürger fühlen sich als Opfer skrupelloser Immobilienhaie, die nicht selten mit den Funktionären unter einer Decke stecken und versuchen, Anwohner mit lächerlichen Entschädigungen abzuspeisen. Dies ist die Ursache für unzählige Demonstrationen und Beschwerden.

Neuer "Bürger-Journalismus"

Erst kürzlich hatte die KP ein neues Eigentumsgesetz verabschieden lassen, das heftige Diskussionen und große Hoffnung auslöst. Beschwerdeführer aus dem ganzen Land reisten bis gestern nach Chongqing, weil sie die Aufmerksamkeit der Medien auch auf ihren Fall richten wollten.

Nachdem die örtlichen Zensurbehörden ihr Verbot, über die Affäre zu berichten, aufgehoben hatten, berichteten sogar die staatlich gelenkten Zeitungen und Magazine, mitunter auf der Titelseite, über das Nagelhaus von Chongqing.

Im Internet erschienen Karikaturen, Fotos, Videofilme unabhängiger Journalisten und Blogger (einer mit dem Namen "Der nackte Lakai"). Die Zahl der Klicks ging in die Millionen. Eine Webseite sah gar einen neuen "Bürger-Journalismus" entstehen.

Die Bewegung um das Nagelhaus war so stark, dass die "Chinesische Jugendzeitung" den Journalisten-Kollegen "Einseitigkeit" vorwarf, sie ermahnte, die "Unparteilichkeit" zu wahren, und die "Öffentlichkeit nicht irrezuführen" - was für ein Parteiblatt eine erstaunliche Bemerkung war.
Share |
Share

TOP